Lenin in Zürich – Informationstafel Spiegelgasse 14

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Unbestreitbar eine weltgeschichtliche Gestalt – mit dieser Wertung rechtfertigte Stadtpräsident Emil Klöti 1928 die Anbringung einer Inschrift am Haus Spiegelgasse 14. Dort lebte für etwas mehr als ein Jahr der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow (1870–1924) mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja (1869–1939) als Untermieter, ehe er am 9. April 1917 Zürich Richtung Russland verliess.

Kaum jemand hätte Lenin allerdings zu diesem Zeitpunkt weltgeschichtliches Format zugesprochen. Entsprechend wenig ist über Aufenthalt und Alltag des Revolutionärs bekannt. Neben dem Schweizer Historiker Willi Gautschi hat sich – gestützt auf Gautschi – vor allem der russische Dissident und Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion mit dem Aufenthalt Lenins in Zürich beschäftigt. Wer also war der Russe, der unter dem seit 1900 verwendeten Pseudonym «Lenin» in die Geschichte einging? Er ist bis heute eine umstrittene Persönlichkeit: Die einen sehen in ihm den willensstarken, zielstrebigen und kompromisslosen Vordenker und Organisator der Oktoberrevolution, für andere pervertierte er die Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels und schuf die Grundlagen für ein Terrorregime.


Das Problem einer kritischen Wertung liegt in der Diskrepanz des einfachen, wenn nicht gar beschaulichen Alltags in Zürich und der späteren weltpolitischen Bedeutung Lenins nach der Machtergreifung in Russland. Der beste Kenner dieser Geschichte, Gautschi, spricht in seinem Buch über «Lenin als Emigrant in der Schweiz» vom «geistigen Sprengstoff», der «in der Schweiz hergestellt» und «in der Oktoberrevolution gezündet wurde». Gleichzeitig zitiert er Fritz Platten, der mit Blick auf die 1917 in Zürich versammelten russischen Revolutionäre meinte, dass wohl niemand prophezeit hätte, dass «diese armen Schlucker […] Führer und Lenker eines Hundertdreissig-Millionen-Volkes werden könnten». Die Herausforderung liegt einerseits darin, Geschichte aus dem Rückblick zu erklären. Gleichzeitig geht es aber auch um die Frage nach der historischen Rolle einzelner «grosser» Männer wie auch nach dem Gewicht von Ideologien: Führte der Weg von den in Zürich verfassten Schriften und von der Persönlichkeit Lenins direkt in den Roten Terror oder hatte sich Lenin nicht vielmehr erst nach seiner Rückkehr Schritt für Schritt und in einem von beiden Seiten brutal geführten Bürgerkrieg als Anführer der Russischen Revolution durchgesetzt? Ist die Gewaltherrschaft mit der Etablierung einer «proletarischen Diktatur» und der Einrichtung von Lagern für unzählige politische Gefangene vor allem dann im Stalinismus die logische Folge der ideologischen Beschäftigung Lenins in der Schweiz oder spielte nicht das Chaos des Ersten Weltkriegs und die Gespaltenheit und Lähmung der russischen Regierung 1917 eine mindestens so wichtige Rolle für die Radikalisierung? Unbestritten ist, dass Lenin mit Zielstrebigkeit und Sendungsbewusstsein rücksichtslos die Macht an sich riss, aber wenig später eine Lockerung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Rahmen der «Neuen Ökonomischen Politik» (NEP) wie auch eine kulturelle Öffnung befürwortete. Angesichts dieser doch sehr unterschiedlichen, wenn nicht widersprüchlichen Faktoren muss eine Wertung des Zürcher Aufenthalts Lenins zwangsläufig schwer fallen. Doch was lässt sich über die Exiljahre Lenins in der Schweiz und vor allem in Zürich sagen?

Viele russische Sozialisten und Sozialdemokraten lebten im Schweizer Exil, weil sie hier den Kontakt zu Gesinnungsgenossen pflegen konnten; nicht zuletzt studierten zahlreiche Frauen an der Universität Zürich. Um sie zu besuchen, hielt sich Uljanow 1895 ein erstes Mal kurz in Zürich auf. Nachdem Lenin 1902 in «Was tun?» sein Konzept einer allein herrschenden revolutionären marxistischen Partei publiziert hatte, musste er nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905/6 erneut ins Ausland gehen und liess sich nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der neutralen Schweiz nieder. Nach Aufenthalten in Genf und Bern zog er mit seiner Frau im Februar 1916 nach Zürich, zuerst an die Geigergasse bei der Schifflände, wenig später an die Spiegelgasse. Dort fanden sie auf Vermittlung eines sozialistischen Jungburschen bei dessen Onkel, dem Schuhmachermeister Titus Kammerer, im zweiten Obergeschoss des Hauses «zum Jakobsbrunnen» eine Unterkunft.

Eigentlich wünschte Lenin zuerst ein Zimmer bei einer einfachen Arbeiterfamilie, dürfte dann aber angesichts seiner Geldmittel mit dem bescheidenen Doppelzimmer bei einem Handwerker durchaus zufrieden gewesen sein. Die Jahresmiete von knapp 300 Franken muss einem durchschnittlichen Arbeiterlohn von 3–4000 Franken gegenübergestellt werden. Die Zimmer waren klein, und in der Wohnung herrschten beengte Verhältnisse, lebten dort doch neben der fünfköpfigen Familie Kammerer weitere Untermieter: ein Italiener, österreichische Schauspieler mit einer fuchsroten Katze und die Frau eines deutschen Soldaten mit Kindern. Lenins Zimmer ging auf den Hinterhof, wo eine Wurstfabrik unliebsame Gerüche verbreitete. Speisen wurden oft auf einem kleinen Petroleumkocher zubereitet. Zur hygienisch eher problematischen Situation passte die sehr enge Überbauung an der Spiegelgasse. Im Rahmen von Stadtsanierungsmassnahmen wurden 1938/39 die Häuser gegenüber der Spiegelgasse 14 abgetragen und der heutige Grünraum gestaltet. Das Wohnhaus von Lenin hingegen musste 1971/73 wegen Baufälligkeit abgerissen und neu errichtet werden.

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Bild: Im Zeichen der Stadtsanierung: Abbruch 1938 und Schaffung einer Platzanlage © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Die Gründe für den Umzug nach Zürich dürften vor allem in Bern liegen, das Krupskaja als «kleinbürgerliches demokratisches Käfig» empfand, und wo die Ideen Lenins auf wenig Begeisterung stiessen. In Zürich erhoffte er sich Anschluss an die im deutschen Arbeiterverein «Eintracht Zürich» versammelten russischen Emigrantenkreise und versprach sich mehr Einfluss auf die revolutionäre Jugend. In der Aufenthaltsbewilligung bezeichnete sich Lenin als «politischer Emigrant seit der Revolution von 1905», der ohne Vermögen von seiner literarischen und journalistischen Arbeit lebe. Mit Willi Münzenberg und Fritz Platten besass Lenin zwei wichtige Kontaktpersonen in Zürich; mit gelegentlichen Vorträgen besserte er sein bescheidenes Einkommen auf. Vor allem aber arbeitete er unermüdlich an seinem Werk «Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» und hielt sich in Bibliotheken auf. Täglich studierte er Zeitungen im nahen Gewerkschaftshaus der Eintracht, dem heutigen Theater und Zunfthaus am Neumarkt. Gelegentliche Wanderungen mit dem Arbeiterverein in der Umgebung Zürichs und ein Kuraufenthalt in den Flumserbergen brachten etwas Abwechslung in den Alltag.

Mit der Wohnung an der Spiegelgasse bewegte sich das Ehepaar Uljanow-Krupskaja in einer historischen Umgebung: Im Nachbarhaus Nr. 12 starb 1837 der Schriftsteller und Naturwissenschaftler Georg Büchner im Alter von 23 Jahren an Typhus; er war 1835 wegen seiner umstürzlerischen Ideen aus Hessen geflüchtet. Seine Beschäftigung mit der Französischen Revolution («Dantons Tod») verbindet ihn mit den russischen Revolutionären, die sich immer wieder auf die Ereignisse in Paris beriefen. Am Napfplatz wurde 1741 der bekannte Pfarrer und Philosph Johann Caspar Lavater geboren, und hier führte der Konditor und Schauspieler Emil Hegetschweiler, Mitbegründer 1934 des antifaschistischen «Cabaret Cornichon», eine Bäckerei. An der Spiegelgasse 1 schliesslich eröffnete 1916 Hugo Ball das Cabaret Voltaire, einen beliebten Treffpunkt avantgardistischer Exil-Künstler aus ganz Europa und Geburtsort des Dadaismus. Ob Lenin das Cabaret besuchte, ist höchst fraglich.

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Bild links: Lenins Reise nach Russland: Umschlag des 1924 von Fritz Platten herausgegebenen Buches; Bild rechts: Lenin als welthistorische Figur: Umschlag der Schweizer Illustrierten Zeitung vom 15. Dezember 1917.

Mit dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917 endete Lenins geduldiges Werben um die Schweizer Sozialisten. Seine Energie richtete sich nun ganz darauf, einen Weg zurück nach Russland zu finden, um die Bolschewisten in Petrograd, wie St. Petersburg von 1914 bis 1924 hiess, ehe es in Leningrad umbenannt wurde, in ihrem Kampf gegen die neue Regierung anzuleiten. Die deutsche Regierung war interessiert an einer Rückkehr Lenins, weil dieser entschieden für eine Beendigung des Krieges eintrat. Lenin wiederum wollte den günstigen Moment für die sozialistische Revolution nicht verpassen und nahm deshalb das Risiko einer Reise durch deutsches Gebiet in Kauf. Staatsrechtlich beging er damit Landesverrat, weshalb er gegenüber den Deutschen Sonderbedingungen erreichte. Dank der tatkräftigen Hilfe von Fritz Platten bestieg er mit weiteren 30 Landsleuten am 9. April 1917 in Zürich einen sogenannt plombierten, wohl aber einfach exterritorialen Bahnwagen, der ihn durch Deutschland nach Stockholm brachte, von wo aus er dann die russische Grenze erreichte. Wenig später war Lenin eine weltgeschichtliche Gestalt. Fritz Platten hingegen musste an der russischen Grenze wieder umkehren. Nach der Oktoberrevolution reiste er immer wieder nach Sowjetrussland: 1918 rettete er Lenin bei einem Attentat angeblich das Leben, nach 1923 gründete er landwirtschaftliche Genossenschaften, 1926 liess er sich mit seiner dritten Ehefrau endgültig in Russland nieder. Gut zehn Jahre später bei den stalinistischen Säuberungen verhaftet, wurde Platten 1942 ausgerechnet am Geburtstag Lenins in einem nordrussischen Lager erschossen.

Titelbild links: Im Herzen der Altstadt: Haus und Restaurant zum Jakobsbrunnen in einer Ansicht aus dem frühen 20. Jahrhundert; Titelbild rechts: Ein bescheidenes Domizil: Zimmer Lenins um 1924; Foto von Wilhelm Gallas, © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich