Die Relativität des Glücks. Eine Wanderung von Winterthur auf die Kyburg

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Wer das Gefühl hat, vom Alltagsstress überrollt zu werden, soll doch einfach aufdie Kyburg wandern: Im Vergleich zum Schicksal der Leibeigenen, die hier einst den Landvögten unterstanden, scheinen viele Sorgen von heute plötzlich verschwindend klein. Das ist emotionale Wellness pur – auch dank Wiesen, Wald und Wasserfällen.

Meine Kinder mögen zurzeit das Buch «Mama, Papa, wer war vor mir da?». Darin möchte die kleine Sophia wissen, wen es denn auf der Welt schon gab, bevor sie geboren wurde. Und was die alle so gemacht haben. Auf jede Antwort der Eltern folgt eine nächste Frage, die noch weiter zurückführt, schliesslich bis zum Urknall. Und die vermutlich beste Station auf dieser Zeitreise, finden meine Kinder, ist das Mittelalter mit seinen Schlössern und Burgen, auf denen Ritter und Burgfräuleins lebten. Entsprechend unschwer war es denn auch, sie für einen Ausflug auf die Kyburg zu begeistern.

Dort stehen noch waschechte Mauern, in denen vor rund 800 Jahren Grafen und später Landvögte hausten. Man kann sich verkleiden, kochen, Ritter spielen. Es gibt Kettenhemden, Daumenschrauben, Hellebarden, eine verrusste Herdstelle mit Rauchfang. Und auch der alte Ziehbrunnen funktioniert noch. Man findet eine Art Puppenhäuser mit der Einrichtung von einst, Öfen «à la mode» von 1773 sowie ein Mini-Gruselkabinett: die berühmte «Eiserne Jungfrau», ein fiktives Folterinstrument, das einst als Mahnmal gegen allzu harten Strafen diente. An Hörstationen erfährt man zudem, wie hier Mägde, Knechte und Ehefrauen eines Landvogts lebten. Und rund um die Burg kann man sich austoben, Fangen und Verstecken spielen; nicht zuletzt im Garten, der noch immer wie Ende des 17. Jahrhunderts angelegt ist – voller Heilkräuter, Färberpflanzen, Blumen und Gemüse. Es hat Erbsen, Rosenkohl, Rhabarber, riecht nach Minze und nach Thymian. Und daneben stehen lebensgrosse Pferde aus Holz sowie ein Ochsengespann.

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Zudem kann man in einem der Kerker sitzen, in dessen Mauern noch jahrhundertealte Kerben geritzt sind. Jede einzelne für einen Tag, den jemand ausgehalten hat – hier in diesem engen, kalten Raum, in dem man sich kaum bewegen kann, und des Urteil harren muss, das einen erwartet. In dem man mit niemandem sprechen. Und nicht einmal TikTok schauen. Dass es einst eine Welt gab, so anders als die heutige, noch ohne Strom, warmes Wasser oder Klospülung, das lässt manche kurz erschaudern. Weil das Unfassbare plötzlich fassbar wird – für ein paar Sekunden vielleicht nur, vielleicht aber auch länger. Selbst wer noch keine Worte dafür kennt, merkt irgendwie, wie relativ Selbstverständlichkeiten sind. Und fragt sich – vielleicht in Form eines vagen Gefühls, vielleicht ganz konkret –, wie wohl die Zukunft aussehen wird, wenn nochmal soviel Zeit vergeht wie seit Errichten dieser Mauern hier.

Gleichzeitig ist die Kyburg womöglich gar eine Instant-Kur gegen Stress, eine Art Ersatzprogramm für Entspannungsbad, Yoga und Duftkerzenrauch. Denn wer sich heute an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aufreibt, über das Schulsystem ärgert oder sich vielleicht fragt, wohin das mit der Digitalisierung des Lebens eigentlich noch führen soll, dessen Sorgen werden kurz erstaunlich krass relativiert, sobald er sich die Ausstellung im ehemaligen Gerichtssaal anschaut. Hier taucht man nämlich ein in eine Zeit, als die Rechtssprechung auf heutigem Kantonsgebiet noch von der Kyburg aus erfolgte. Und erfährt Dinge, die wohl niemanden wünschen lassen, damals hier gelebt zu haben. Zumindest nicht als Untertan oder Untertanin: Zwei junge Männer (17- und 18-jährig), die zugaben, beim Holzen im Wald homosexuelle Handlungen vollzogen zu haben, wurden im Sommer 1704 – aus reiner Milde – «bloss» noch enthauptet statt wie Jahrzehnte zuvor noch bei lebendigem Leibe verbrannt. Und ein junger Mann, der ein paar Stecken stahl, um ein Feuer zu machen, wurde mit zwölf Rutenschlägen sowie drei Jahren Verbannung bestraft. Mit der Folge, dass er sich wohl nur noch als Söldner verdingen konnte.

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Die Eiserne Jungfrau in einer «Geisterreportage auf Schloss Kyburg», Schweizer Illustrierte Zeitung, 1957 (Quelle: ETH-Bildarchiv)

Solch grotesken Strafmassen zum Trotz war das Leben in der Frühen Neuzeit allerdings schon fast Luxus im Vergleich zu den Zuständen, die im Zürcher Obrigkeitsstaat ab dem 11. Jahrhundert vorherrschten. Denn hier existierte de facto Sklaverei in Form von sogenannter Leibeigenschaft. Ein Grossteil der Bevölkerung gehörte einem adeligen oder geistlichen Herrn, für den sie Frondienst leisten mussten. Er durfte sie verkaufen, tauschen, verpfänden oder zur Ehe zwingen, wobei die daraus resultierenden Kinder natürlich ebenfalls in seinen Besitz übergingen. Freiheit erlangen konnten Leibeigene erst durch Wegzug in die Stadt («Stadtluft macht frei»): Wer hier als Handwerker, Kaufmann oder Gesellin so unauffällig blieb, dass einen der nachjagende Herr ein Jahr und einen Tag lang nicht finden konnte, war endlich frei.

Angesichts solcher Umstände – kombiniert mit der noch sehr rudimentären Medizin und entsprechend hoher Sterblichkeit – erscheinen die eigenen Alltagssorgen bald relativ banal. Das mit der Relativitätstheorie, an der Einstein einst ja unter anderem im Zürcher Café Metropol herumgedacht haben soll, ist zwar eigentlich etwas anders gemeint. Dennoch kann man hier nun seine ganz persönliche Theorie anwenden: die der Relativität des Glücks. Oder besser: Unglücks. Und sich dadurch ein bisschen fühlen wie in Lasse Hallströms Film «Mein Leben als Hund», in dem sich der kleine Ingemar permanent damit tröstet, dass es den Menschen, die in der Zeitung unter «Unglücksfälle» stehen («vom Blitz getroffen» etc.) noch schlechter geht als ihm selber, dass es – rein relativ gesehen – also eigentlich gar nicht so schlimm ist, dass seine Mutter krank und hysterisch ist, er seinen Hund weggeben musste und nun bei Verwandten lebt, die ihn gar nicht mögen.

Nun ja, jedenfalls: Vielleicht hat man nach all den Grusel-Gerichtsgeschichten, sonstigen Gräueln oder auch nur fehlendem Komfort dann plötzlich doch Lust, wieder zurück ins Heute zu reisen. Und hier, angeregt durch die verspielte Ausstellung, selbständig weiter zu recherchieren: Was machen unfreie Lebensverhältnisse eigentlich mit dem Glücksempfinden? Stumpft man automatisch ab oder bleibt die Spanne des Gefühlsspektrums in etwa gleich, einfach gekoppelt an vergleichsweise starkes Unglück, das einen erst Verzweiflung fühlen lässt, und nur kleine Lichtblicke, die regelrechte Euphorie auslösen können? Oder: Wann und warum wurde die Gefängnisstrafe erfunden? Ist ihr Nutzen wissenschaftlich erwiesen? Und was ist eigentlich von den gerichtspsychiatrischen Gutachten zu halten, die heute Täter:innen lebenslang verwahren lassen können? Eine angeregte Nachbearbeitung des Aufenthalts ist also so gut wie garantiert.

Collage Geisterstunde
Klassentreffen kyburg

1. Die Eiserne Jungfrau in einer «Geisterreportage auf Schloss Kyburg», Schweizer Illustrierte Zeitung, 1957 (Quelle: ETH-Bildarchiv), 2.Die Kyburg – seit Jahrzehnten beliebtes Ziel für Schulreisen, hier des Technikums Winterthur, 1933 (Quelle: ETH Bildarchiv)

Nun ja, jedenfalls: Vielleicht hat man nach all den Grusel-Gerichtsgeschichten, sonstigen Gräueln oder auch nur fehlendem Komfort dann plötzlich doch Lust, wieder zurück ins Heute zu reisen. Und hier, angeregt durch die verspielte Ausstellung, selbständig weiter zu recherchieren: Was machen unfreie Lebensverhältnisse eigentlich mit dem Glücksempfinden? Stumpft man automatisch ab oder bleibt die Spanne des Gefühlsspektrums in etwa gleich, einfach gekoppelt an vergleichsweise starkes Unglück, das einen erst Verzweiflung fühlen lässt, und nur kleine Lichtblicke, die regelrechte Euphorie auslösen können? Oder: Wann und warum wurde die Gefängnisstrafe erfunden? Ist ihr Nutzen wissenschaftlich erwiesen? Und was ist eigentlich von den gerichtspsychiatrischen Gutachten zu halten, die heute Täter:innen lebenslang verwahren lassen können? Eine angeregte Nachbearbeitung des Aufenthalts ist also so gut wie garantiert.

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Das vielleicht Beste aber am Kyburg-Ausflug: dass man sich den dramaturgischen Höhepunkt, das Besuchen der Burg selber, so redlich verdient. Denn was wäre Weihnachten ohne Adventszeit, was Geburtstag ohne das Tage-Zählen schon Wochen davor – und was die Kyburg ohne ihren Wanderweg? Die rund 400 Stufen hoch zum Schloss – die der sympathische Museumsdirektor übrigens täglich zu Fuss zurücklegt – rennt die Jugend meist voraus und winkt dem Rest nach 150 Höhenmetern dann glücklich von oben her zu, den Landjäger, Apfel und die Schoggi längst vertilgt. Aber auch davor muss sich der Weg nicht verstecken: Begonnen in Winterthur, vorbei an Minigolf und Openair-Billard (beim Restaurant Breite), beschaulichen Reihenhäusern – in denen man am liebsten selbst wohnen würde –, durch den Wald zu farnumwachsenen Bächen, an denen sich prima Staudämme bauen lassen, romantischen Brätelstellen inklusive Wasserfall, vorbei an der Töss, Kuhweiden und sogar einem Eiszeit-Pfad. Auf diesem erfährt man, dass man grad auf einem ehemaligen Gletscher steht, an dessen Rändern vor rund zweieinhalb Millionen Jahren Dreieinhalb-Meter-Mammuts, Rentiere und Wollnashörner lebten, zusammen mit Säbelzahntigern und Riesenhirschen. Unbestrittener Höhepunkt unterwegs jedoch (nach einer Stunde, bei ungefährer Wander-Halbzeit der perfekte Ziwschenrast): der Wildpark Bruderhaus mit grossem Spielplatz, reizender Gartenwirtschaft, Luchsen, Wisenten, Ur-Hühnern, Wölfen und Mufflons.

Kurz danach taucht aus den wilden Wäldern dann plötzlich schon die Kyburg auf, die Schritt für Schritt immer etwas näher rückt – und schliesslich wie gesagt eine Art Weihnachten ist: aufgrund der Schliessung im Winter halt einfach zur Abwechslung mal im Frühling, Sommer oder Herbst.

Zur Anregung:


  • «Mama, Papa, wer war vor mir da? Eine Geschichte über unsere Wurzeln inklusive Stammbaum zum Selbstausfüllen» von Thierry Lenain, 2021
  • Café Metropol, Zürich (in dem Einstein an seiner Relativitätstheorie herumdachte)
  • «Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?» von Mathias Binswanger, 2006
  • «Mein Leben als Hund», Regie: Lasse Hallström, 1985
Wanderroute winti kyburg

WANDERZEIT: 2.5 hAuf- / Abstieg: 346 m /164 mVerpflegung: Gartenwirtschaft im Wildpark Bruderholz (nach einer Stunde Wanderzeit), Wirtschaft Eschenberg (nach 1.5 Stunden), Brätelstelle bei Wasserfall (nach 2 Stunden), Kiosk Schloss KyburgÖffnungszeiten Schloss Kyburg: 1. April bis 31. Oktober, Dienstag bis Sonntag, 10:00 – 17:30 Uhr

ZUR ANREGUNG:
– «Mama, Papa, wer war vor mir da? Eine Geschichte über unsere Wurzeln inklusive Stammbaum zum Selbstausfüllen» von Thierry Lenain, 2021

– Café Metropol, Zürich (in dem Einstein an seiner Relativitätstheorie herumdachte)

– «Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?» von Mathias Binswanger, 2006

– «Mein Leben als Hund», Regie: Lasse Hallström, 1985